Achtung: Dieser Artikel kann nur persönlich sein und ist von meinen Eindrücken als Anwohnerin, meiner Filterbubble und meiner Weltsicht geprägt. Ich habe mich aber darum bemüht, mich umfassend aus unterschiedlichsten Quellen zu informieren und mir einen Gesamteindruck zu verschaffen, den ich gerne teilen möchte.
G20 – polarisierende Tage
Ich schreibe diesen Artikel, auf den in der Informationsflut rund um den G20-Gipfel sicher niemand gewartet hat, aus einem einzigen Grund: Ich bin erschrocken über die sehr verbreitete Schwarzweiß-Betrachtung der Ereignisse in Hamburg. Eine große Mehrheit scheint in gute Polizei, böse Demonstranten zu unterteilen (manche auch umgekehrt), das halte ich für eine nicht nur vereinfachende, sondern auch gefährliche Betrachtung. Selbst Menschen in meinem Netzwerk, denen ich unterstellt hätte, dass sie die Welt in ihren vielen Facetten wahrnehmen, outen sich hier. Im Kampf um die Deutungshoheit der Ereignisse sollte man aber differenzierter vorgehen. Mit Sicherheit auch differenzierter als ich.
Polizisten, Demonstranten, Krawalltouristen – sie alle sind Menschen. Die einen zu Helden zu stilisieren, die zweiten zu naiven Schäfchen zu machen und die dritten als Tiere zu bezeichnen, ist falsch und schadet uns als Gesellschaft.
G20 – Der Veranstaltungsort Hamburg
Um das gleich vorweg zu nehmen: Ich war weder für noch gegen Hamburg als Veranstaltungsort des diesjährigen G20-Gipfel. Ob es sinnvoll ist, immens hohe Kosten gegen den Willen von Anwohnern und in Antizipation gewalttätiger Ausschreitungen in Kauf zu nehmen, kann man diskutieren, aber prinzipiell muss erst einmal jeder Ort infrage kommen, auch wenn ich persönlich kein Fan des Vorschlags bin, Politik, die die gesamte Menschheit betrifft auf einem Flugzeugträger in der Südsee zu machen. Gut, die Messehallen und die Elbphilharmonie waren in diesen Tagen ähnlich “volksnah”.
G20 – Die Schanze brennt
Auch ich nutze hier mal eine Zwischenüberschrift nach Art der Springer-Presse, denn gebrannt hat es, das habe ich mit eigenen Augen gesehen und gebrannt hat es auch gleich um die Ecke des Hauses, in dem ich wohne. In Wahrheit haben natürlich die errichteten Barrikaden gebrannt und Gott sei Dank nicht die Häuser der Schanze.
Ich lebe seit 17 Jahren in Hamburg und habe diverse Male mit erlebt, was hier an einem 1. Mai so abgeht, wenn auch Steine fliegen, Scheiben zertrümmert, Wasserwerfer eingesetzt werden. Was aber in den letzten Tagen hier passiert ist, hatte eine andere Qualität.
Der Hass, der hier sein hässliches Gesicht zeigte, war anders. Der schwarze Block, der immer so furchtbar nach Einheit klingt und doch aus vielen Splittergruppen besteht, schien dann doch sehr geeint in seiner Zerstörungswut und machte nicht Halt vor “Kollateralschäden”.
Wo normalerweise Sachbeschädigungen überwiegen und physische Gewalt sich gegen Polizisten richtet (was ich auch dann nicht zu ertragen finde), wurde in Kauf genommen, dass es Tote unter den Anwohnern gibt. Teilweise stand zu befürchten, dass Flammen auf Häuser übergreifen und die Feuerwehr wurde daran gehindert, zu prüfen, ob sich in einem Gebäude Menschen befinden?!?
Es wurden Autos vermeintlicher Kapitalisten angezündet und dabei der Wagen des ambulanten Pflegedienstes durch die übergreifenden Flammen gleich mit. Warum zum Henker zündet man überhaupt Autos an?
Es wurden nicht “nur” Schaufensterscheiben eingeschlagen, sondern auch Geschäfte geplündert. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber mehrere Besitzer kleinerer Läden im Karoviertel und der Schanze haben mir erzählt, dass eines der Anti G20-Plakate im Vorfeld ausgegeben wurde, um Läden zu kennzeichnen, die verschont werden. Dieses Plakat soll es nur als Print, nicht aber als digitale Version zum Download gegeben haben. Falls das stimmt, zeigt es, mit welcher Systematik hier vorgegangen wurde.
Getroffen hat es insbesondere wieder Geschäfte, die aus Sicht einiger den Kapitalismus repräsentieren. Geschäfte, die Markenware führen, die Haspa (was schon traurige Tradition hat) und aber auch Rewe, Edeka und Budni.
Budni, der Drogeriemarkt, der sich für so viele soziale Themen engagiert und sich – soweit mir bekannt ist – auch seinen Mitarbeitern gegenüber gut verhält.
G20 – unsichtbarer friedlicher Protest
Natürlich waren die vielen friedlichen Proteste in Hamburg nicht unsichtbar, auch sie fanden ihren Weg in die Medien. Irgendwie waren sie es dann aber doch, bedenkt man, dass die friedlichen Demonstranten in der großen Mehrheit waren. Die Bilder und Nachrichten, die um die Welt gingen, verschoben dieses Verhältnis. Das tut mir sehr leid für die vielen, vielen Menschen, die aus gutem Grund von ihrem Recht zu demonstrieren, Gebrauch machten.
Diese friedlichen Demonstranten dann auch noch in die Nähe von Extremisten zu rücken oder ihnen nach der ersten Krawallnacht nahezulegen, dass sie doch bitte daheim bleiben mögen, um sich nicht als Sympathisanten zu outen – schwer erträglich.
G20 – Die Polizei
Eines haben die letzten Tage gemacht: Sie haben geholfen, einen Imagewandel der Polizei zu vollführen, wie ihn keine Kampagne mit noch so hohem Werbedruck hätte erzeugen können. Polizisten werden als Helden gefeiert und auch ich ziehe meinen Hut vor fast allen, die hier am Start waren.
Aus verschiedenen Bundesländern angereist, in unmenschlich langen Schichten eingesetzt, waren die meisten von ihnen freundlich und offen und haben für viel Nähe und Vertrauen gesorgt.
Auch meine persönlichen Erfahrungen mit der Polizei waren durchweg positiv. Die Kreuzung vor meinem Haus war Teil eines der Korridore, die rund um die Uhr gesichert wurden, und Polizisten aus Brandenburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen lösten sich hier ab. Teilweise nach 17 Stunden Schicht. Ich habe mich mit diesen Duos ausgetauscht, den ein oder anderen Kaffee vorbei gebracht und konnte Menschen beobachten, die am Rande der Erschöpfung waren, schockiert von dem was sie über den Polizeifunk an Informationen erhielten, und dennoch blieben sie alle freundlich. Nicht jeder Anwohner hatte Verständnis dafür, nicht 24/7 mit dem Auto seine Straße ansteuern zu dürfen – die Polizisten blieben geduldig und erklärten immer und immer wieder, warum es manchmal einfach nicht möglich war.
Dann waren da die vielen Hundertschaften, die bei dem guten Wetter unter ihrer schweren Montur leiden mussten und die nonstop hellwach und abrufbar sein mussten. Auch von ihnen waren einige vor meiner Tür im Einsatz als es nachts brannte und Menschen die Straße nicht räumen wollten. Einen Wasserwerfer vor meiner Tür hätte ich mir nie träumen lassen. Am Ende waren es gleich mehrere und genutzt wurden sie auch, sehr vorsichtig allerdings.
Ich kann nicht oft genug danke sagen für das, was ich an Menschlichkeit und Besonnenheit hier erlebt habe, aber deshalb zweifle ich nicht an, was andere Menschen erlebt haben. Journalisten – und nicht nur welche, denen man eine linke Gesinnung unterstellt – beklagten sich darüber, in ihrer Arbeit behindert worden zu sein und es gab Zwischenfälle mit der Polizei, die ich nicht gutheißen kann und zu denen es aus meiner Sicht keine zwei Meinungen geben kann.
Dabei denke ich auch (aber nicht nur) an die junge Frau, deren Bilder um die Welt gingen. Sie kletterte auf ein Räumfahrzeug der Polizei, wollte auch nach wiederholter Aufforderung nicht wieder herunter kommen und wurde dann von zwei Polizisten massiv mit Pfefferspray besprüht.
Ja, man klettert nicht auf Polizeifahrzeuge, aber eine unbewaffnete Frau kann man (und muss man) da auch anders wegbewegen. Wenn ähnliche Bilder in anderen Ländern entstehen, wird hier aufgeschrien, aber hier relativiert die Mehrheit. Warum? Weil in Deutschland alles seine Richtigkeit hat? Polizisten sind dazu verpflichtet, jeweils das geringstmögliche Mittel einzusetzen und das kann nicht Pfefferspray gewesen sein.
Neben den Bildern gibt es auch ein Video der Szene und es war hier nicht zu erkennen, dass für die Polizisten keine andere Wahl bestand. Auch wenn die Polizei unterm Strich in Hamburg einen wirklich guten Job gemacht hat, muss man solche Einsätze hinterfragen dürfen, ohne dabei verbal zerfleischt zu werden. Die selben Menschen, die hier relativieren, werfen übrigens anderen vor zu relativieren, wenn diese auf die mehrheitlich friedlichen Demonstranten hinweisen.
Auf der Schanze dann wird der Polizei vorgeworfen, nicht schnell genug eingegriffen zu haben. Das wiederum kann ich nicht verstehen, wenn man bedenkt, wie gefährlich und unübersichtlich die Situation gewesen zu sein scheint.
G20 – Die Macht der Bilder
Alle halten immer die Kamera drauf. Dank Smartphones eben nicht nur Journalisten, sondern auch alle anderen, mich eingeschlossen. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, mitten im Chaos auf dem Schulterblatt zu fotografieren und mich darauf beschränkt, friedlichen Protest und das Schulterblatt, das Teil meiner Hood ist, jeweils am frühen Morgen nach den Ausschreitungen oder während der Aktion “Hamburg räumt auf” zu fotografieren. Zum Teil, weil ich mir diese Art der Sensationsgeilheit verbitte und sie mich anwidert, dann aber auch wieder, weil ich mich mit aktuell 48 Prozent Lungenfunktion ohnehin nicht mehr auf Demos oder in Gegenden bewege, wo ich fürchten muss, den Rest meiner Gesundheit aufs Spiel zu setzen.
Bilder sind mächtig, das zeigt sich auch hier in Hamburg wieder. Das auch von mir zitierte Bild des Mädchens auf dem Polizeifahrzeug, der Edeka-Mann, der Riot-Hipster – diese Bilder wurden zigfach geteilt und an ihnen entlang verliefen und verlaufen viele der Diskussionen. Solche Bilder zeigen aber nur einen Teil des Ganzen und stehen nicht als Teil für das Ganze. Auch werden sie für die jeweiligen Zwecke instrumentalisiert und ohne Kontext verwendet. Der Riot-Hipster beispielsweise wird von vielen als Brandstifter wahrgenommen. Vielleicht ist er aber auch einfach nur ein Idiot, der jegliches Gefühl dafür verloren hat, wann ein Selfie noch angebracht ist.
Und wer von uns interpretiert den Edeka-Mann richtig? Zufall oder gelungene Inszenierung? Ich weiß es jedenfalls nicht.
G20 – Fake News und Social Media
Ich liebe die sozialen Medien. Jeder kann mitmachen, Content produzieren, sich politisch oder unpolitisch äußern, Katzenbilder oder Essen posten oder – wie ich – von ihnen leben. Ich hasse die sozialen Medien. Sie bieten Hass und Dummheit eine Plattform und richten Schaden an. Ach, wenn die Welt wirklich so einfach wäre…
Fakt ist, dass ich über die sozialen Medien an diesem Wochenende viel von den friedlichen Demonstranten mitbekommen habe. Eindrücke, die auf dem klassischen Weg nicht zu mir gefunden hätten. Aber dann war da auch die galoppierende Dummheit. Privatmenschen, die mit einem Foto eine online-Hetzjagd starten. Ein Mann steht einem verletzten Polizisten gegenüber und daraus wurde mal schnell abgeleitet, dass eben dieser Mann den Polizisten attackiert hat, der im übrigen sein Augenlicht verlieren wird. Wie es aussieht, ist nichts davon wahr (auch nicht der Verlust des Augenlichts) und ich kann nicht verstehen (konnte ich auch schon in der Vergangenheit nicht), wie man solche Posts teilen kann. Das ist gefährlich und kann nicht aufgehalten werden.
Irgendwann wird mal jemand, der zu unrecht an den Social Media Pranger gestellt wird, mehr als “nur” digitales Opfer. Fahndungsarbeit sollte man denen überlasen, deren Aufgabe sie ist.
G20 – gruppentherapeutisches Aufräumen
Nach der heftigen Nacht von Freitag auf Samstag organisierte eine Facebook-Nutzerin ein Happening für die Schanze. Unter dem Titel “Hamburg räumt auf” sollten schnell die Spuren der Ausschreitungen beseitigt werden. Ab 13 Uhr am Sonntag, Treffpunkt Sternschanze.
Ich habe mich von Anfang an über die Uhrzeit gewundert, denn um diese Zeit ist die Stadtreinigung längst durch, aber grundsätzlich ist das eine schöne Idee. Das fand auch unser Bürgermeister, der sich dann auch gemeinsam mit dem Bundespräsidenten mit den Organisatoren ablichten ließ.
Ich war morgens schon in der Schanze, wo es Gott sei Dank nicht einmal annähernd so schlimm aussah wie am Vortag und wo die Stadtreinigung schon fleißig zugange war. Mittags gab es dann auch noch ein bisschen zu tun. Dort, wo es gebrannt hatte, wurde mit Hämmern und allem was zur Hand war, der klebrigen Schicht, die sich im Kopfsteinpflaster gebildet hatte, zu Leibe gerückt. Steine wurden wieder eingesetzt und Parolen (auch welche, die schon lange vor G20 an den Rolläden waren) entfernt.
Bei ausgelassener Stimmung und Live Musik hatte die Aktion für mich den Charakter einer gruppentherapeutischen Party. Nicht alle Anwohner waren übrigens begeistert von der Aktion und dem damit verbundenen erneuten Lärm vor ihrer Haustür.
G20 – politische Verantwortung
Noch eine Frage, an der sich die Geister scheiden: Sollte Hamburgs Erster Bürgermeister, Olaf Scholz, angesichts der aus dem Ruder gelaufenen Ereignisse nun seinen Hut ziehen? Meine Prognose: Das wird nicht passieren. Meine Meinung: Jemand, der ortsansässig und ein erfahrener Politiker ist, darf einer Stadt keine Sicherheitsgarantie geben. Tut er es doch, sollte er sich seiner politischen Verantwortung stellen und gehen. Und dann? Weiß ich auch nicht, aber einfach zum business as usual übergehen, scheint mir falsch.
So, damit bin ich am Ende meiner subjektiven und viel zu oberflächlichen Betrachtung (unter der Dusche hatte ich so kluge Gedanken, aber konnte sie nicht aufschreiben). Ich bin gespannt, wie schnell die zahlreichen Stimmen zu G20 verstummen und man zur Tagesordnung übergeht.
Übrigens ist in dem ganzen Getöse ja nun auch fast untergegangen, was die “volksnahen” Politiker so alles entschieden oder nicht entschieden haben. Aber hey, Trump fühlte sich sicher.
Ganz zum Schluss eines noch einmal laut und deutlich: Ich habe null Verständnis für Sachbeschädigungen, körperliche Übergriffe und Plünderungen. Nicht im Alltag und auch nicht im Namen einer politischen Sache.
Schöner Artikel, Nina.
Dankeschön, Stefanie..